Alice Herz-Sommer

* 26. 11.1903 Prag; † 23. 02. 2014 London

Alice Herz-SommerAlice Herz-Sommer stammte aus einer wohlhabenden, musikalischen Familie in Prag, die Eltern waren mit Gustav Mahler und Franz Kafka befreundet. Mit fünf Jahren hatte sie begonnen, Klavier zu spielen. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet, ihr Ehemann kam im KZ Dachau um, ihr Sohn starb vor ihr – und trotzdem hatte sie Freude am Leben. “Rummeckern bringt doch nichts, es fühlen sich dann nur alle schlecht.Mein Optimismus hat mir durch die dunkelste Zeit in meinem Leben geholfen. Ich interessiere mich für die schönen Dinge im Leben.”

Ihre weltweite Popularität verdankte Alice Herz-Sommer zwei extremen Gegensätzen: Sie war als Jüdin Opfer des Holocaust gewesen, hatte das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt – und war dennoch ein fröhlicher Mensch geblieben. Wer sie nach dem Ursprung ihrer guten Laune fragte, dem erteilte sie diese schlichte Lektion: “Spiele Klavier!” Das Klavier war ihr Seelentrost und Seelenkost. “Ich bin zwar jüdisch”, sagte sie, “aber Beethoven ist meine Religion.”

Alice Herz-Sommer vermochte auch zu zaubern. Ihrem Sohn Raphael gaukelte sie in Theresienstadt eine heilere Welt vor. Wenn er über Hunger klagte, spielte sie vor, die wässrige Suppe sei in Wahrheit ein Königsmahl. Erschrak Raphael über die dürren KZ-Insassen, nahm sie ihn mit zum Klavierspielen ins KZ-Orchester. In seinen Memoiren schrieb Raphael Sommer einmal den unfassbaren Satz: “Ich hatte in Theresienstadt eine glückliche Kindheit.”
(An der Mutter, die die Tochter – nach Alices Empfinden – stets übersehen hatte, hing sie mit trotziger Liebe. Als der damals 72-Jährigen im Frühjahr 1942 der Deportationsbefehl zuging und Alice von ihr Abschied nehmen musste, verlor auch die Tochter den Boden unter den Füßen.
„Bis heute erinnere ich mich genau, wie nach Wochen tiefer Verzweiflung plötzlich eine innere Stimme zu mir sprach: Übe die 24 Etüden, das wird dich retten.“ Chopins Etüden gehören zum schwierigsten, was je für Klavier geschrieben wurde – wenn man verzweifelt ist, nimmt man sich Großes vor. „Sie waren die bisher gewaltigste Herausforderung an meine Willenskraft und meine Disziplin.“ Sie waren aber auch ihr Zufluchtsort.)

1942 deportierten die Nationalsozialisten ihre kranke, 72-jährige Mutter. Die Mutter, wie später auch Alices Ehemann Leopold, kam in einem KZ ums Leben. Herz-Sommer verfiel daraufhin in Depressionen. Ein prägendes Erlebnis hatte sie, als sie durch die Straßen von Prag ging:

Alice Herz-Sommer„Eine innere Stimme kam mir in den Sinn, an die ich mich auch nach 80 Jahren noch genau erinnere, an welcher Stelle in Prag dies geschah. Diese Stimme sagte mir: Jetzt kannst nur du dir helfen, nicht der Mann, nicht der Doktor, nicht das Kind. Und im selben Moment wusste ich: Ich muss die 24 Etüden von Frédéric Chopin spielen. Diese Etüden sind die größte Anforderung an jeden Pianisten. Sie sind wie Goethes Faust oder Shakespeares Hamlet. Herrliche Kompositionen. Ich rannte nach Hause, und von dem Moment an habe ich Stunden um Stunden und Stunden geübt, bis zu unserer Deportierung.“

Ein Jahr später hatte sie die Etüden zur Konzertreife gebracht. Im Jahr 1943 wurde Alice Herz-Sommer deportiert. „Seit meiner Kindheit gibt die Musik mir Geborgenheit. Sie gibt mir Halt. Sie trägt mich.“ Und sie rettete ihr das Leben. Mit ihrem Mann und dem damals sechsjährigen Stephan, der sich später – in Israel – Raphael nannte, wird sie nach Theresienstadt deportiert. Mehr als einhundert Konzerte gab Alice dort für ihre Mithäftlinge, gut zwanzig Mal führte sie die Etüden auf, alle 24.

Sie spielte in einer Welt von Hunger, Leid und Tod. Ihr Sohn Raphael war fünfzigmal einer der Hauptdarsteller in der Kinderoper Brundibár des Komponisten Hans Krása. Unter anderem spielten die Häftlinge, weitgehend ohne Partituren, aus dem Gedächtnis Beethoven, Bach, tschechische Komponisten und die 24 Etüden Chopins. Alle halbe Stunde wechselten sich die Konzertpianisten des Lagers ab, um in einem Zimmer auf dem Piano des Lagers zu üben. An einigen Tagen waren bis zu vier Konzerte angesetzt. Die Namen der Musiker verschwanden von den Transportlisten, die in andere Vernichtungslager führten. Auf die Frage hin, wie Herz-Sommer es geschafft habe, das Leben im Konzentrationslager auszuhalten, antwortete sie:

„Da gibt es nur ein Wort als Erklärung: Die Musik. Die Musik ist ein Zauber. Wir haben alles auswendig gespielt. Die Etüden, die Beethoven-Sonaten, Schubert, alles. Im Rathaus-Saal für 150 Leute, alte, verzweifelte, kranke, verhungerte Menschen. Die haben gelebt von der Musik, die Musik war das Essen. Die wären längst schon gestorben, wenn sie nicht gekommen wären. Und wir auch.“

Die Musik rettete sie auch, als sie erfuhr, dass ihr Mann über Auschwitz nach Dachau deportiert worden und dort gestorben war. Ihr Mann, Leopold Sommer, wurde Ende September 1944 in das KZ Auschwitz verbracht, danach in das KZ Buchenwald, darauf folgte das KZ Flossenbürg. Er starb kurz vor der Befreiung 1945 im KZ Dachau an Flecktyphus. Alice und ihr Sohn Raphael, eines von nur 130 überlebenden Kindern, überlebten das KZ Theresienstadt. Ihr Mann rettete ihr und dem gemeinsamen Kind Raphael durch seine Warnung, nichts freiwillig zu machen, vor seinem Abtransport das Leben.

„Eines Abends kam mein Mann und sagte mir, dass am nächsten Tag tausend Männer mit einem Transport weggeschickt würden. Und dass er darunter sei. Er hat mir das Ehrenwort abgenommen, nichts freiwillig zu machen, wenn er weg ist. Am Tag nach seinem Transport gab es einen weiteren Transport unter dem Motto: Frauen gehen den Männern nach. Viele Frauen haben sich freiwillig gemeldet. Sie haben die Männer nie getroffen, sie sind getötet worden. Ich hätte mich ohne seine Warnung sofort gemeldet.“

Am 8. Mai 1945 befreite die Rote Armee das Theresienstädter Konzentrationslager.

Die Musik half ihr, sich im kommunistischen Nachkriegs-Prag – in ihrer Erinnerung „tausendmal schlimmer als die Nazis“ – durchzuschlagen, mit ihrem Sohn nach Israel zu flüchten und ein neues Leben als Klavierlehrerin aufzubauen. Auf die meditative Kraft der Musik vertraute sie, als sie gegen den Brustkrebs kämpfen musste. Und dank der Musik fand Alice einen neuen Freundeskreis, als sie Mitte der 1980er Jahre noch einmal neu begann und von Jerusalem nach London zog. In der Musik fand sie langsam wieder Halt, nachdem Raphael – er blieb ihr einziges Kind – im November 2001, wenige Tage vor ihrem 98. Geburtstag, überraschend starb.

Herz-Sommer war mit dem Hauptrichter der Nürnberger Prozesse befreundet, mit dem sie vierhändig Klavier spielte. Dank ihm konnte sie den Prozess gegen einen der Haupttäter des Holocausts, Adolf Eichmann ansehen. Alice Herz-Sommer fühlte Mitleid mit ihm. Hass? „Ich habe nie gehasst“, sagt Alice. Und man glaubt ihr aufs Wort. Was das Leben ihr auch zugemutet hat, sie nahm es an. „Humor ist ein Antibiotikum gegen den Hass“, zitiert sie ihren Schwager. Dabei liegen ihre Hände auf dem Schoß, die knochigen Finger wiegen sich sanft gegeneinander. In Alice, denkt man, klingen immerfort die schönsten Melodien, auch wenn sie sich aufmerksam unterhält. Beethoven oder Schubert mag sie nun, im hohen Alter, am liebsten.
„Ist das Leben nicht herrlich?“ fragt sie plötzlich. Und ihre Antwort stimmt nachdenklich: „Ja, das Leben ist herrlich!“

1986 übersiedelte Alice Herz-Sommer zu ihrem Sohn Raphael Sommer (* 21. Juni 1937; † 26. November 2001) und seiner Familie nach London. Er war Cellist, Dirigent und Mitglied des Solomon Trio. Bis in ihr 92. Lebensjahr beherrschte sie ihr gesamtes Repertoire auswendig. Nachdem ihre beiden Zeigefinger steif wurden, studierte sie einen Teil der Stücke mit einem Acht-Finger-System neu ein. Die Musik hatte bis zuletzt eine besondere Bedeutung für sie:

„Der Mensch braucht nicht Essen, er braucht nur einen Inhalt. Und das kann die Musik sein. Nicht die Malerei und nicht der Goethe mit dem Shakespeare, denn die Musik macht uns vergessen. Zeit existiert dann nicht mehr. Man hört, und speziell in einer schwierigen Situation ist man verzaubert, in einer anderen, in einer besseren, hoffnungsvolleren Welt.“

2013 wurde ein Dokumentar-Kurzfilm mit dem Titel The Lady in Number 6 veröffentlicht, in dem Herz-Sommer über ihr Leben und ihre Liebe zur Musik spricht.

Alice Herz-Sommer starb im Februar 2014 im Alter von 110 Jahren in London.

https://www.youtube.com/watch?v=AlGSjWgw
https://www.youtube.com/watch?v=pedXjUTQUAY (mit deutschen Untertiteln)

Melissa Müller und Reinhard Piechockie: Alice Herz-Sommer – Ein Garten Eden inmitten der Hölle (Biografie, TB bei Knaur)