Für uns sind die Gedichte und Lieder aus Ghetto und KZ, von Flucht und Exil ein Weltkulturerbe. Sie gehören in den Mittelpunkt unserer Erinnerungskultur. Denn sie können uns daran erinnern, das Menschen dort inmitten der Dunkelheit für sich und andere ein Licht angezündet haben. Und sie können uns an unsere eigene Menschlichkeit erinnern. Wir vergessen diese menschliche Größe, wenn wir uns nur an die Grausamkeiten der Täter erinnern. Auch der Widerstand der Opfer, auch der leise Widerstand der Worte und Klänge, braucht ein Erinnern. Hier findet die Unermesslichkeit des Leidens ihr Gegenüber in der Widerstandsfähigkeit und Schönheit der menschlichen Seele. Wir möchten an diese Dichter erinnern und singen ihre Lieder und Gedichte als eine Feier des Lebens gegen das Vergessen.
Lieder, die in den KZ und Ghettos entstanden sind
Karl Robert Bodek/ Kurt Conrad Loew, Lager Gurs, 1941
Zeichnungen, entstanden im KZ
Inge Auerbacher: Ich bin ein Stern (CD Titel 1), Little Bird (CD Titel 4)
Inge Auerbacher (geb. 1934 bei Freiburg) wurde als siebenjähriges Kind mit ihren Eltern in das KZ Theresienstadt deportiert. Dort lernte sie im konspirativ organisierten Englischunterricht das Gedicht „Little bird“. In ihrer Biografie beschreibt sie später, wie sie jeden Tag von ihrem Fenster aus die Vögel beobachten konnte, die an der Festungsmauer ihre Nester bauten und frei ein und ausflogen. In ihrem späteres Jugendbuch beschreibt sie ihren Überlebenskampf im KZ. Es heißt „Ich bin ein Stern“, darin findet sie auch das gleichnamige Gedicht, in dem sie den aufgezwungenen Judenstern in den heiligen Schutzstern ihrer Selbstachtung verwandelt. Am 8. Mai 1945 werden die Überlebenden in Theresienstadt von der sowjetischen Armee befreit. „Meine Familie ist durchgekommen, das war wirklich ein Wunder!“, erzählt Inge Auerbacher. Im Mai 1946 emigrieren die Eltern mit ihrer Tochter nach New York, wo Inge Auerbacher heute noch lebt und sich weiterhin gegen Rassismus und Intoleranz einsetzt und insbesondere mit der jungen Generation spricht.
Shmerke Kaczerginski: Friling (CD Titel 2) Abraham Sutzkever: Unter deinen weißen Sternen (CD Titel 3)
Zwei Lieder unserer CD sind im Ghetto von Wilna entstanden. In „Frühling/ Friling“ beklagt der Widerstandskämpfer Shmerke Kaczerginski ( (1908-1954) den Verlust seiner ermordeten Frau. Er schreibt später: „Das kulturelle Leben im Ghetto war sowohl geistiger Widerstand wie auch ein finaler schöpferischer Akt. Die Künstler waren zum Sterben verdammt , konnten aber mit dem künstlerischen Schaffen nicht aufhören, also waren sie zum künstlerischen Arbeiten verdammt…Das gab uns die Stärke weiter zu leben und die Kraft, die Funken des Widerstandes zu schüren. Als Ergebnis des hartnäckigen geistigen Widerstandes (in Form von Vorträgen, Theater, Liedern u.a.) befanden sich hunderte von Juden aus Wilna in den Partisanencamps in den litauischen und weißrussischen Wäldern.“
In dem von Abraham Bruno komponierten Lied „Unter deinen weißen Sternen/ Unter dayne vayse Shtern “ thematisiert Abraham Sutzkever (1913–2010) seine vergebliche Gottessuche im Ghetto. Er läuft »höher über Dächer», um seinen Gott zu finden; sein Gesang bleibt jedoch ohne Antwort. Als er 1943 dieses Gedicht schrieb, hatte er bereits die Ermordung der Hälfte aller jüdischen Einwohner, darunter seine Mutter und sein neugeborenes Kind, erlebt. Er selbst überlebte als Partisan in den Naroczer Wäldern.
Selma Merbaum: Das Glück (CD Titel 5), Schlaflied für dich ( CD Titel 6), Nachtigallied (CD Titel 12)
Selma Merbaum (1924-1942) war eine junge deutschsprachige Dichterin aus Czernowitz in der Bukowina (heute westliche Ukraine), die 1942 mit 18 Jahren im NS-Zwangsarbeitslager Michailowka an Fleckfieber starb. Schon früh begann sie mit der Lektüre jener Autoren, die großen Einfluss auf ihr eigenes Werk ausüben sollten: Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Klabund, Paul Verlaine und Rabindranath Tagore. Eigene Gedichte sind von Selma ab 1939 erhalten. Im Lager und von Arbeit und Krankheit entkräftet schrieb Selma weiter ihre Gedichte. Ihr 58 Gedichte umfassendes Werk wird mittlerweile zur Weltliteratur gezählt. Das „Schlaflied für dich“ hat sie für ihren fernen Geliebten Leiser Fichmann geschrieben. In das „Glück“ beschwört sie die Hoffnung auf die Wiederkehr ihres Glückes. Das „Nachtigallied“ ist eine gewaltige, mitreißende Hymne an das Leben. Das von uns so genannte Gedicht heißt ursprünglich „Stefan Zweig“ und ist dem von ihr verehrten deutschen Schriftsteller gewidmet, der sich genau 3 Monate später im Exil das Leben nahm. Sie selbst starb Ende des Jahres 1942, ihre Mutter berichtete, dass sie bis zum letzten Atemzug leise gesummt und gesungen hätte. Kurz vorher schrieb sie noch die Zeilen:
„Ich möchte leben. / Ich möchte lachen und Lasten heben / und möchte kämpfen und lieben und hassen / und möchte den Himmel mit Händen fassen / und möchte frei sein und atmen und schrei’n. / Ich will nicht sterben. Nein: / Nein.“
Lieder von Exil und Flucht
Erich Mühsam: Ich bin ein Pilger (CD Titel 7)
Der Anarchist, Bohemien und Dichter Erich Mühsam (1878 – 1934) ging nicht ins Exil, aber sein Gedicht „Ich bin ein Pilger“ verdeutlicht seine nomadische Lebensweise, seine rastlose Sehnsucht. Er schreibt: „Manchmal fühl’ ich ein Ahnen,ein Sehnen, vor dem mir bangt…Das zieht und zerrt, und ich weiß nicht wohin, weiß nicht, wonach meine Sehnsucht verlangt. Ich weiß nur dies: Es ist Liebe darin!“ In der Nacht des Reichstagsbrandes wird er verhaftet und am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet. Die Meldung in der nationalsozialistischen Presse lautete: „Der Jude Erich Mühsam hat sich in der Schutzhaft erhängt“.
Hilde Domin: Mit leichtem Gepäck (CD Titel 8)
Hilde Domin ( 1909 – 2006) hat viele Länder auf ihrer Flucht bereist. Ihr Rat für Flüchtende lautet so wie ihr Gedicht, denn es reist sich besser „Mit leichtem Gepäck“. Sie besteht darauf das eine „Rose eine Rose“ bleibt, auch wenn ein „Heim kein Heim“ ist. Das Bild der Rose steht dabei für die deutsche Sprache, die ihr im Exil immer Halt gegeben hat (siehe auch ihr Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“ von 1959). Der Hinweis, dass ein Löffel mehr als zwei ist, erinnert an den Löffel der KZ-Häftlinge, die ihn oft an einem Band um den Hals trugen, um ihn nicht zu verlieren. Nach 22 Jahren im Exil ist die Dichterin 1954 nach Deutschland zurückgekehrt, wo sie sich sozial sehr engagierte und viele Lesungen in Gefängnissen, Gotteshäusern und Ausbildungseinrichtungen gab.
Mascha Kaléko: Sozusagen ein Mailied (CD Titel 9)
Mascha Kaléko (1907- 1975) schrieb ihr Gedicht „Sozusagen ein Mailied“ im Exil in New York. Die junge Dichterin einer sinnlichen Alltagslyrik war eine „Berliner Pflanze“: Mit 22 Jahren veröffentlicht sie erste Gedichte, die im heiter-melancholischen Ton die Lebenswelt der kleinen Leute und die Atmosphäre im Berlin widerspiegeln. Mit Charme und Humor, mit erotischer Strahlkraft und sozialer Kritik erobert sich Mascha die Herzen der Großstädter. In ihrem Emigrantenmonolog, den wir am Ende des Liedes hinzugefügt haben, schreibt sie: „Mir ist zuweilen so, als ob das Herz in mir zerbrach. Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach.“ Bevor sie ihre neu gefassten Pläne einer Heimkehr nach Berlin umsetzen konnte, ist sie Anfang 1975 auf dem Rückweg nach Jerusalem gestorben.
Else Lasker Schüler: Mein blaues Klavier (CD Titel 10)
„Spielen ist alles“, lautete eine von Else Lasker-Schülers (1869 -1945) Devisen. Sie entwirft sich selbst als eine Märchenfigur: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam, im Rheinland. Ich ging bis elf Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.“ 1933 floh sie als schon berühmte Malerin und Dichterin zunächst nach Zürich und dann nach Israel. Ihr Lyrik verbindet Liebesthemen und religiöse und mystische Motive. „Ich suche allerlanden eine Stadt, die einen Engel vor der Pforte hat.“ 1943 erscheint ihr letzter Gedichtband, benannt nach dem Gedicht „Mein blaues Klavier“. Darin beklagt sie den Verlust der Schönheit, der Mondfrau-Mutter, die Verrohung der Welt und bittet: „Ach liebe Engel öffnet mir – Ich aß vom bitteren Brote – mir lebend schon die Himmelstür, auch wider dem Verbote.“ Else Lasker-Schüler starb am 22. Januar 1945, da war aus dem glitzernden Mädchen, schon eine gezeichnete alte Frau geworden, die verstört durch die Straßen von Jerusalem lief. „Ich glaube, so hat Niemand barfuß sein Herz durch die Menge gehen lassen wie ich.“
Rose Ausländer: Unendlich (CD Titel 11)
Wie auch Selma Merbaum wurde Rose Ausländer (1901 -1988) in Czernowitz in der Bukowina geboren. Sie überlebte den Faschismus im Ghetto und später in Kellerverstecken, wo sie den Dichter Paul Celan (die „Todesfuge“) traf, der ihr Werk wesentlich beeinflussen sollte. Sie emigrierte 1946 nach der Übernahme durch Russland nach New York. Ihr Schreiben war ein Suchen nach Heimat, sie nennt es das „Mutterland Wort“. Dichten heißt für sie: „Sieben Höllen durchwandern / Der Himmel sieht es gern / geh sagt er / du hast nichts zu verlieren.“ 1964 kehrte sie nach Europa zurück. Wohnen blieb aber für sie ein Fremdwort. „Fliegend auf einer Luftschaukel, Europa Amerika Europa. Ich wohne nicht, ich lebe.“ In ihrem Gedicht „Unendlich“ wird der Grenzort des Exils zum Ausgangspunkt der Erfahrung eines tröstenden Tod. „Vergiss deine Grenzen, wandere aus. Das Niemandsland Unendlich nimmt dich auf.“ Sie starb, bis zu ihrem Tod dichtend und schreibend, am 3. Januar 1988 im jüdischen Altersheim in Düsseldorf.
Alle erwähnten Gedichte finden Sie auf unserer CD „Trotzdem lieben“.