Anfang

Lebens- und Liebeslieder aus dem KZ?

Ja, es gibt sie! Es war Ende der 80er Jahre, als ich das erste Mal eine Ahnung davon bekam. Meine Tochter Mara war 9 Jahre alt, etwa so alt wie Inge Auerbacher, deren Gedicht ich zufällig im Schulbuch meiner Tochter fand. Sie war 1942 mit ihren Eltern in das KZ Theresienstadt deportiert worden. Es waren nur wenige Worte, die ich fand.

In ihrem Buch „Ich bin ein Stern“ beschreibt sie, wie sie von ihrem Fenster aus die Vögel beobachten konnte: „Wie ich sie beneidete! Sie konnten aus all dem Elend davonfliegen, während ich eingeschlossen blieb.“ Inge Auerbacher entdeckte meine Vertonungen und schrieb mir ein schönes Grußwort. Sie ist heute 85 Jahre, lebt in den USA und arbeitet weiterhin gegen das Vergessen.

“Vielen Dank für die schöne Vertonung meines Gedichtes. Die Musik kann Hoffnung in unser Leben bringen. Sie kann das Grauen von unseren Herzen löschen. Die Musik bringt Kraft und stillt die Schmerzen des Hungers. Die Musik kann auch Hass verdrängen und sich auf Liebe einstellen. Bravo für die Lieder auf dieser CD!
Much Love, Inge” (23.02.2020)

Für mich öffnete sich durch diese Entdeckung ein kleines, zartes Fenster. Ich begann zu forschen. Wo ich vorher nur Leichenberge und Finsternis sah, fand ich jetzt Zeugnisse von Menschen, die gegen die Finsternis in und um sich herum gekämpft haben. Menschen, die trotzdem lebten und liebten.

Ein zweites Schlüsselerlebnis war für mich das Stück des jüdischen Autors und Regisseurs Joshua Sobol „Ghetto“ über das Ghetto in Wilna. Es wurde 1884 an der Berliner Volksbühne von Peter Zadek inszeniert. Es war ein Schock, ein Aufwachen für mich, denn ich sah die Aufführung vollkommen unvorbereitet im Fernsehen. Den Anfang hatte ich verpasst und so wusste ich nicht, dass es sich um ein Stück über ein reales historisches Ghetto handelte. Ich sah es als eine Parabel auf die Ausweglosigkeit unseres Lebens: den Ghetto-Kommandeur, den Unternehmer, wie sie mit den Nazis kooperierten; die Schauspieler, die bis zum Schluss spielen wollten; den intellektuellen Chronisten, der alles aufschrieb; die verzweifelte Hoffnung der Widerstandskämpfer – ich sah jeden Akteur sein Bestes geben und sich dennoch schuldig machen. Erst später erfuhr ich, dass das Stück auf historischen Dokumenten basierte, und Sobol das Theaterstück über das Leben und Theater im Ghetto in Wilna mit authentischen Liedern und Texten rekonstruiert hatte. Eine Frage ohne Antwort durchzieht das ganze Stück, eine Frage, über die schon damals im Ghetto heftig gestritten wurde: Darf man auf dem Friedhof tanzen? Oder auch: Welcher Weg ist der Richtige angesichts der drohenden Vernichtung? Durfte man singen und lachen, durfte man kooperieren, durfte man alte Menschen opfern, um junge Menschen zu retten? Durfte mal leben?

Ab 2015 kam dann durch meine Arbeit und Freundschaft mit Geflüchteten das Thema Flucht und Exil dazu. Ich las die deutsche Exildichtung erneut, als eine Brücke zu den heute bei uns Schutz Suchenden, als eine gemeinsame historische Erfahrung.

Schlage keinen Nagel in die Wand,

wirf den Rock auf den Stuhl.

Warum vorsorgen für vier Tage?

Du kehrst morgen zurück.

(Gedanken über die Dauer des Exils- Bertold Brecht, 1937)

Ich habe gefragt, Behsad, wann gehen wir zurück?

Wir haben unsere Sachen ausgepackt, wir haben Nägel in die Wände geschlagen, wir haben den Kindern jetzt schon Sommersandalen gekauft, Behsad, wann gehen wir zurück?

(Nachts ist es leise in Teheran – Shida Bazyar, 2016)

Als ich begann aus den Gedichten Lieder zu machen, entstanden sie intuitiv, fast ohne mein Zutun. Laura gab den Gedichten dann mit ihrer uneitelen Stimme einen naiv-wissenden Klang. Die Kompositionen sind nicht historisch, sondern gegenwärtig. Dadurch sollen die existentiellen Erfahrungen uns so nah wie möglich werden, so als ob die Dichter Weggefährten sind, die heute neben uns gehen und zu uns sprechen. Die dadurch weiter leben. Das ist mein Wunsch: das ihre Gedichte in den Liedern überleben können.

Den Mördern zum Trotz.

Für mich sind diese Lieder helle Zeichen der Menschlichkeit, ein Triumph des Lichtes über die Dunkelheit. Sie wurden nicht für die Bühne und den eigenen Ruhm geschrieben und bieten uns eine existentielle Botschaft der Hoffnung, der Trauer und der Schönheit an. Doch ich verstehe auch, dass die Lieder Schuld, Scham und Beklemmung auslösen können, dunkle Gefühle, die unser unerlöstes kollektives Trauma berühren. Ich wünsche mir für die Lieder, dass wir sie als einen lebendigen Ausdruck fühlender Menschen hören können, ohne dabei die unfassbare Dimension der Verbrechen zu verkleinern.

Dieter Halbach