Exildichtung

https---cdnde2.img.sputniknews.com-images-30531-28-305312865http---www.hrvatskiglas-berlin.com-wp-content-uploads-2-G110-F1-1944-1_fluechtlinge

Flucht und Exil – gestern wir und heute ihr

Es ist die Zeit nach der „Flüchtlingskrise“ von 2015. Die vielen exotisch anmutenden Menschen sind gekommen und wir halfen ihnen und hießen sie „Willkommen“ – als Fremde. Erst später wird mir klar, dass hier in Deutschland, viele tausende Menschen, Juden, Kommunisten, Intellektuelle, das gleiche Schicksal erlebt haben wie sie. Auch sie lebten im Exil, auch sie mussten fliehen und haben alles verloren.

Ich habe Freunde gefunden unter den Geflüchteten. Ich gebe ihnen Geld, damit sie illegal ihre Familien hierher holen können. Mit einer Mahnwache vor dem auswärtigen Amt kämpfen wir für ihre Familienzusammenführung. Am Flughafen sehe ich sie, nach schlaflosen Nächten der Furcht, sich weinend in die Arme fallen. Ich freue mich über ihre Bereicherung meines Lebens, mache mit ihnen Musik und möchte nicht, dass sie wieder gehen. Doch wie sieht es in ihnen aus? Die neue Freiheit und der Frieden und die alte Heimat und die Familie zuhause zerren an ihnen. Über ihre Smartphones und die Nachrichten fließt Schmerz und Sehnsucht wie durch eine blutende Nabelschnur ständig durch sie hindurch. Sie sind nie wirklich hier. Wie lange wird ihr Exil dauern?

Ich lese in dem Buch „Nachts ist es leise in Teheran“ von Shida Bazyar. Sie beschreibt darin die Geschichte der jungen persischen Revolutionäre Behsad und Nahid, die 1979 nach der Machtübernahme der Islamisten um Khomeini nach Deutschland fliehen mussten. Der folgende Dialog zwischen ihnen, war der Auslöser für meine Wiederentdeckung der deutschen Exildichtung. Nahid hat zufällig in einem alten Schulbuch das Gedicht von Bertold Brecht „Gedanken über die Dauer des Exils“ gefunden. Darin erkennt sie sich wieder.

Ich habe gefragt, Behsad, wann gehen wir zurück? Wir haben unsere Sachen ausgepackt, wir haben Nägel in die Wände geschlagen, wir haben den Kindern jetzt schon Sommersandalen gekauft, Behsad, wann gehen wir zurück? Und Behsad hat sich neben mich gesetzt und gesagt, Nahid, sei kein Kind, hör auf zu weinen, das bringt nichts, Khomeini wird sterben, und alle werden aufwachen, das weißt du doch, das muss man dir nicht erklären. Ich habe ihm das Gedicht gezeigt und gesagt, Wir tun so, als würden wir den Baum draußen nicht gießen, und wir tun es doch. Behsad hat das Buch einfach zugeschlagen, ich solle mich sinnvoll beschäftigen und nicht so ein Zeug lesen, und ich habe geweint, dieses Mal unabsichtlich, und gedacht, wie er alles abtut, was mich traurig macht, damit wir hier leben können, als wäre alles gut…“

Exilgedichte gestern und heute

 

Exil 1937: Gedanken über die Dauer des Exils (Bertold Brecht)

Schlage keinen Nagel in die Wand, wirf den Rock auf den Stuhl.

Warum vorsorgen für vier Tage? Du kehrst morgen zurück.

Lass den kleinen Baum ohne Wasser. Wozu noch einen Baum pflanzen?

Bevor er so hoch wie eine Stufe ist, gehst du fort von hier.

Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbei gehen!

Wozu in fremden Grammatiken blättern?

Die Nachricht, die dich heimruft, ist in bekannter Sprache geschrieben.

So wie der Kalk vom Gebälk blättert (Tue nichts dagegen!),

wird der Zaun der Gewalt zermorschen

der an der Grenze aufgerichtet ist

gegen die Gerechtigkeit.

II

Sieh den Nagel in der Wand, den du eingeschlagen hast:

Wann, glaubst du, wirst du zurückkehren?

Willst du wissen, was du im Innersten glaubst?

Tag um Tag

arbeitest du an der Befreiung

sitzend in der Kammer schreibst du.

Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?

Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes

zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest!

image-1043535-860_galleryfree-odjk-1043535http---www.watson

Exil heute: Gedichte von Geflüchteten

Über die Flucht nach Europa (Mohamad Mashghdost, 2016)

Meine Heimat habe ich verlassen, mein Herz.
Jetzt ist es wie Schlaf und Traum
und brennt in der Tiefe meines Körpers.
Die weinende Mutter hat mich fortgeschickt,
die Leiden sind zu Ende, sagte ich.
Ich packte und machte mich auf den Weg.
Leib und Seele überließ ich dem Ozean,
Gott, danke, ich existiere noch.
Gott möge das Meer verfluchen, das die Leiber verschlingt.

Das Gebet und die Liebe für die Schwester halfen mir anzukommen.
Aber meine Augen haben die Farben des Unglücks gesehen.

Mohamad Mashghdost, 18 Jahre aus Bandar-e Ansali, Iran

Ich kann nun die Sonne sehen (Von Laila Ammi, 2018)

Ich kann nun die Sonne sehen
und den Tag
den Tag, den ich als Nacht gesehen habe.

Ich höre nun wieder zwitschernde Vögel
sie rufen einander
sie singen für ihre Liebe.

Die Sonne spiegelte ihr Licht auf mein Herz
und meine Seele
meine Seele, die gelangweilt war.
Meine erstickte Seele.

Wie schnell sich alles veränderte.
Ein Wind, der alles mit sich nahm.
Dieses Mal nahm er auch die Trauer mit
und das Leiden.

Er ließ mir das Lächeln
und den Duft der Blumen.

Ich sehe nun das Schwarze weiß
der Himmel ist nicht mehr schwarz
ich sehe alle Farben.
Das Blau, das Grün, das Braun, mit Wasser gemischt.

Ich genieße das Riechen
der Erde im Winter.
Ich genieße das Laufen
unter dem Regen
und höre die Herztöne der Verliebten.

Scheine, Sonne, scheine auf die Seelen
aller Traurigen
stille den Schrei der Armen
beende die Trauer der Elenden.

Der Sonnenaufgang ließ sich Zeit
die Dunkelheit verweilte Nächte und Jahre.

Scheine, Sonne, und leuchte auf die Seelen der Schreienden
stille ihre Schreie
beende das Bluten ihrer Herzen
den stürzenden Blutbach
und schenke ihnen ihr Leben.

Laila Ammi, Foto: Wolfgang Wedel

Dieser Text erschien 2018 in der 12. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.

Mut heißt Macht (Yasser Niksada, 2018)

Ich war klein und wusste nicht
was Mut bedeutet.
Ich habe den Sinn von Mut verstanden
als ich auf dem Weg war.

Es war dunkel
alles war schwarz
und ich hatte Angst
dass ich es nicht schaffen würde.

Ich habe mich von meiner lieben Mutter getrennt
und mich an den Blick meines Vaters erinnert.

Dann habe ich mir selbst vertraut
sie haben mich beruhigt
und ich bin mutig weiter
und weiter gelaufen.

Ich wusste, dass mein Gott mich unterstützt
sonst hätte ich mein Ziel niemals erreicht.

Es braucht Mut zu vergessen.
Vergessen braucht Mut.

Die Menschen, die du jeden Tag siehst
auf einmal zu verlassen
braucht Mut.

Die Menschen, die dasselbe Blut
haben wie du
haben keine Ahnung.
Ihnen zu sagen: keine Ahnung, wann ich
Euch wieder sehen werde.

Mut hat der, der weiß, dass auf dem Weg
50 Prozent Ziel
und 50 Prozent Tod ist.

Mutig ist der, der lachend
alle Probleme seiner Familie auf
den Schultern trägt
und nicht sagt, dass er nicht mehr kann.

Es gibt viele Menschen, die mutig sind.
Die, die kämpfen
kämpfen für ein friedliches Leben.

Wenn du keinen Mut hast
hast du keine Chance zu leben.

Du brauchst jeden Tag Mut.

Deine Freunde fragen dich: Wie geht es dir?
Und du antwortest: Gut.
Ich weiß
wenn manche
von den Problemen, die sie haben
erzählen würden
würde ein Fluss aus ihren Tränen entstehen
aber sie behalten sie für sich
bis zum Ende.

 

Yasser Niksada, Foto: The Poetry Project

Yasser Niksada (16) stammt aus dem Panshir-Tal in Afghanistan.

 

Dieser Text erschien 2018 in der 12. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ – in Kooperation mit dem Berliner Verein „The Poetry Project“.

Mehr Infos:

thepoetryproject.de

http://nid-zeitung.de/