Eine Erinnerung an das Lebendige!

Gedanken zu Kunst und Musik im Ghetto und KZ von Dieter Halbach

Vermindert die Schönheit der Liebesgedichte aus dem Ghetto und KZ das unfassbare Verbrechen des Holocaust? Darf man zeigen, dass es auch dort wunderbare Kunst gab? Ja, dass sie ein Erbe der Menschheit, ein Zeichen der menschlichen Würde ist? Darf man sagen, dass es Menschen gab, die dort ihre Würde nicht verloren, sondern gefunden haben? Würde, wer gegen eine Feier dieser Lebenskraft ist, nicht die Menschen, die diese Kunst kreiert haben ein zweites Mal zu Opfern machen?

„Denn erst wenn es gelingt, das Stereotyp KZ=Leichenberge aufzubrechen und hinter den Schreckensbildern die Opfer als Subjekte, als Individuen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten sichtbar zu machen, kann ihr Zeugnis Eingang in das Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung finden.“ (Barbara Distel: Das Zeugnis der Zurückgekehrten in: Dieckmann/Herbert/Orth: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager 1998)

Es sind bewegende künstlerische Zeugnisse der KZ-Häftlinge und Bewohner der Ghettos, die gesehen und gehört werden wollen und die zu den Höhepunkten der Weltkunst gehören. Doch vor Allem sind die Gedichte und Geschichten eine Feier der Kraft des Lebens gegen die Vernichtung, nicht nur gegen den Horror des Faschismus und des Holocaust, sondern auch gegenüber einer Erinnerungskultur, die nur das Grauen und den Tod erinnert.

Der Psychologe und KZ – Überlebende Viktor Frankl schreibt über einen Moment der Musik im KZ: „ Ich werde es nie vergessen können, wie ich in der zweiten Nacht in Ausschwitz aus dem tiefen Schlaf der Erschöpfung erwachte, geweckt durch – Musik: Der Blockälteste hatte in seiner Kammer irgendeine Feier veranstaltet…Dann war plötzlich Ruhe – und eine Geige weinte einen unendlich traurigen Tango…Die Geige weinte – in mir weinte etwas mit. Denn an diesem Tage hatte jemand seinen vierundzwanzigsten Geburtstag; dieser Jemand lag in irgendeiner Baracke des Ausschwitz Lagers, also nur ein paar hundert Meter von mir entfernt – und doch unerreichbar; dieser Jemand war meine Frau.“

Frankl erzählt in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ von den Menschen im KZ, die durch die Baracken gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend. Sein Credo dieser Grenz- Erfahrung ist:

„Und mögen es nur wenige gewesen sein – sie haben Beweiskraft dafür , dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein So oder so!“

So ein Mensch war Etty Hillesum. Sie ging freiwillig in das Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden, um den Schwachen zu helfen. Eine “leuchtende Persönlichkeit” nannten Überlebende sie später. Von daher kann Etty von sich sagen: „Ich bin ein glücklicher Mensch und preise dieses Leben, jawohl, im Jahre 1942, dem soundsovielten Kriegsjahr. Ich ruhe in mir selbst. Und jenes Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich `Gott´“. In ihren Augen schließt dieser innere Frieden das Leiden mit ein: “Das Leiden tastet die Würde des Menschen nicht an. Ich meine damit: Man kann menschenwürdig und menschenunwürdig leiden. Ich meine damit: die meisten Menschen des Westens verstehen die Kunst des Leidens nicht und haben tausend Ängste davor…Mein Gott, man kann es so gut verstehen.“ Am 7. September 1943 wurde sie mit ihrer Familie nach Auschwitz gebracht und ermordet. Vorher hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben:

„Ich fühle mich gar nicht in ihren Klauen, weder wenn ich bleibe, noch wenn ich abtransportiert werde. Man wird mich möglicherweise zugrunde richten, aber man wird mir nichts anhaben können…Ich möchte ein Pflaster sein auf vielen Wunden.“

Ein anonymes Gedicht aus dem Frauenlager Ravensbrück:

Welche Fäden auch das Schicksal spinnt,

Kopf hoch und straff gespannt die Nerven.

Denn nichts vermag uns umzuwerfen,

wenn wir nur bleiben,

die wir sind.

Nach außen still im Sinn der Haft,

die zu Gehorsam uns verpflichtet,

doch innerlich hoch aufgerichtet,

im Wissen um die eigene Kraft.

Ein Beispiel für die Überlebenskraft durch Musik ist die tschechische Konzertpianistin Alice Herz-Sommer. Sie überlebte das KZ Theresienstadt und starb erst 2014 mit 110 Jahren als fröhliche Alte in London. Zeit ihres Lebens war ihre innere Haltung positiv: „Mein Optimismus hat mir durch die dunkelste Zeit in meinem Leben geholfen. Ich interessiere mich für die schönen Dinge im Leben.” In seinen Memoiren schrieb ihr Sohn Raphael Sommer einmal den unfassbaren Satz: “Ich hatte in Theresienstadt eine glückliche Kindheit.” Seine Mutter schuf für ihn und viele andere einen „Garten Eden inmitten der Hölle“ (so der Titel ihrer Biografie) Auf die Frage wie sie es geschafft habe, das Leben im Konzentrationslager auszuhalten, antwortete sie:

„Da gibt es nur ein Wort als Erklärung: Die Musik. Die Musik ist ein Zauber. Wir haben alles auswendig gespielt. Die Etüden, die Beethoven-Sonaten, Schubert, alles. Im Rathaus-Saal für 150 Leute, alte, verzweifelte, kranke, verhungerte Menschen. Die haben gelebt von der Musik, die Musik war das Essen. Die wären längst schon gestorben, wenn sie nicht gekommen wären. Und wir auch.“

Natürlich wurde Musik auch von den Nazis funktionalisiert. Sie bildete in allen KZ einen festen Bestandteil des Lagerlebens. So wurden die Musiker auch gezwungen beispielsweise “La Paloma” zu spielen, um die Gefangenen auf den Weg in die Gaskammern zu begleiten. „Wurde sie (die Musik) dabei von den Tätern missbraucht, um ihre Opfer zu disziplinieren, zu verspotten und zu demütigen, bedienten sich die Häftlinge der Musik als Mittel des geistigen Widerstandes und mentaler Überlebenshilfe.“ (Guido Fackler: Des Lagers Stimme. Musik im KZ)

All diese Künstler sind herausragende Beispiele für die vielen unbekannten Menschen, die inmitten der Hölle ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Einfache Menschen, die es auch heute überall auf der Welt inmitten von Krieg, Vertreibung und Elend gibt.

Ein aktuelles Beispiel ist der syrische Musiker Aeham Ahmad. Er spielte in Damaskus mit seinem Klavier dort so lange in den zerbombten Straßen gegen die Schrecken des Krieges an, bis IS Kämpfer drohten sein Klavier anzuzünden und er ohne seine Familie flüchten musste. Aeham versucht diesen Schmerz in seinen Liedern zu verarbeiten und Flüchtlingskindern in seiner neuen Heimat Deutschland mit selbst komponierten Liedern eine Hoffnung zu geben.

Wir haben die Wahl. Gerade jetzt, wo es noch Demokratie und Freiheit gibt, ist es unsere Verantwortung unsere Stimme zu erheben und jeder Zerstörung von Menschlichkeit und Gemeinschaft entgegenzutreten, indem wir – auch unsere Gegner – voller Energie und Mut „trotzdem lieben“.

“Lassen Sie niemals jemanden allein, der Ihre Hilfe benötigt. Und: Selbst in der Hölle gibt es Solidarität.”

Das seien die beiden wichtigsten Lehren aus seinem Leben, sagte Marian Turski zum Abschluss seiner ergreifenden Rede bei der UNESCO zum 75 Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz 2020. Marian Turski war 1944 nach Auschwitz deportiert worden, kam später nach Buchenwald, dann ins Ghetto von Theresienstadt – und überlebte. Heute ist er 93 Jahre alt.

Ruth Weber, eine weitere Holocaust Überlebende, sagte zum Jahrestag der Befreiung:

„Ich weiß noch, wie wir in Auschwitz in den Baracken saßen und uns überlegt haben, was wir den Deutschen antun würden. Aber dann sagten wir uns: Wenn wir das täten, dann wären wir genauso schlimm wie sie“

Aeham Ahmad

Videos Aeham Ahmad: Mein Klavier ist meine Heimat
https://www.youtube.com/watch?v=Ct0Sr1HeI58
https://www.youtube.com/watch?v=eg5T9-CsRqw

Dokumentarfilm im ZDF:
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2685326/Der-Klavierspieler-aus-Jarmuk#/beitrag/video/2685326/Der-Klavierspieler-aus-Jarmuk