Das denkende Herz

– Ein musikalisches Gebet
(Text: Etty Hillesum/ Musik: Dieter Halbach)

Das Leben ist schön – Ich bin ein glücklicher Mensch und preise dieses Leben, jawohl, im Jahre des Herren 1942, dem soundsovielten Kriegsjahr.
Ich ruhe in mir selbst. Und jenes Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir,
in dem ich ruhe, nenne ich “Gott”
Die Urkraft besteht darin, dass man, auch wenn man elend umkommt, bis zum letzten Augenblick das Leben als sinnvoll und schön empfindet in dem Gefühl, dass man alles in sich verwirklicht hat und dass es gut war zu leben.

Ich will dieses Jahrhundert kennenlernen, von außen und von innen. Ich betaste dieses Jahrhundert, jeden Tag aufs neue, mit meinen Fingerspitzen taste ich an den Konturen der Zeit entlang.

Der Frieden kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Hass gegen die Mitmenschen, gleich welche Rasse oder welchen Volkes in sich besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, sondern auf weite Sicht sogar zu Liebe werden könnte.

Das Leiden tastet die Würde des Menschen nicht an. Ich meine damit: Man kann menschenwürdig und menschenunwürdig leiden. Ich meine damit: die meisten Menschen des Westens verstehen die Kunst des Leidens nicht und haben tausend Ängste davor. Das ist kein Leben mehr, wie die meisten Menschen leben.

Aber erleben wir nicht jeden Tag ein ganzes Leben, und macht es denn viel aus, ob wir ein paar Tage mehr oder weniger leben? Ich bin jeden Tag in Polen, auf den Schlachtfeldern; ich bin bei den Hungernden, bei den Misshandelten und Sterbenden, jeden Tag bin ich dort, aber ich bin auch hier bei dem Jasmin und dem Stück Himmel vor meinem Fenster, in einem einzigen Leben ist für alles Platz.

Durch mich hindurch fließen breite Flüsse, in mir erheben sich hohe Gebirge. Und hinter dem Gestrüpp meiner Unruhe und Verwirrungen erstrecken sich die breiten Ebenen der Ruhe und Erhebung. … Die Erde ist in mir und auch der Himmel ist in mir. … Ich falte die Hände mit einer Gebärde, die mir lieb geworden ist, und sage närrische und ernsthafte Dinge im Dunkel zu dir und erflehe einen Segen über dein ehrliches, liebes Haupt, all das zusammen könnte man mit einem Wort “beten” nennen.

Und das Komische ist: Ich fühle mich gar nicht in ihren Klauen, weder wenn ich bleibe, noch wenn ich abtransportiert werde. Man wird mich möglicherweise zugrunde richten, aber man wird mir nichts anhaben können.

Ich möchte ein Pflaster sein auf vielen Wunden.